von Isabella Kreim
Es gibt nur wenige Momente, in denen sich diese Menschen berühren, sich auch körperlich nahekommen. Ansonsten sprechen die Figuren auf Stufen sitzend oder im Stehen frontal ins Publikum. Auch wenn sie miteinander, zueinander sprechen, sehen sie sich nicht an, markieren in die Luft vor sich ein Schulterklopfen oder ein Küsschen für das Gegenüber, das hier tatsächlich ein Nebeneinander auf Distanz ist.
Mit diesem stringenten Kunstgriff macht Regisseur Jochen Schölch deutlich, wie sehr diese Familie gespalten ist und trotz eingespielter Höflichkeitsrituale wie gemeinsamen Abendessen oder einem Shoppingausflug jeder und jede unverstanden und isoliert bleibt. Ebenso wie die politischen Ansichten der ehemaligen Studienfreunde, des jetzigen Jungunternehmers und rechten Politikers Thomas und des linken Journalisten Alfred, des Überraschungsbesuchers dieser Familie, inzwischen auseinander klaffen.
„Wir driften auseinander“ ist einer der Schlüsselsätze, das Leitmotiv dieser Aufführung.
Und keiner hat mehr Recht oder ist schuldiger als die anderen.
Die Spielweise dieser Inszenierung erinnert an die Abstandsregeln während der Corona-Epidemie, und das soll es auch. Denn der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer hat Gerhard Hauptmanns Sozialdrama „Vor Sonnaufgang“ vor dem Hintergrund einer Spaltung unserer Gesellschaft in „die da Oben“ und die, die sich abgehängt fühlen und gegen Flüchtlingspolitik oder Coronamaßnahmen auf die Straße gehen, neu formuliert und aus der reich gewordenen schlesischen Bauernfamilie vom Ende des 19. Jahrhunderts eine deutsche Unternehmerfamilie der Gegenwart gemacht. Und Palmetshofer hat dabei vor allem die Frauenfiguren neu konturiert.
Trotz der Reduktion und Konzentration auf den sprachlichen Ausdruck innerer Dramen, wird Theater gespielt, und zwar so genau, subtil und sprachlich nunanciert, dass man konzentriert und gespannt den 90 Minuten Spieldauer folgen kann. Und es entstehen wie unter einem Brennglas klar gezeichnete Figuren mit vielen Zwischentönen.
Sehr menschlich ist diese Inszenierung, wunderbar genaues, stilles Theater. Und damit eigentlich das Gegenteil der lautstark primitiven Konfrontationen einer gespaltenen Gesellschaft, deren Abbild diese Familienkonstellation in „Vor Sonnenaufgang“ ist.
Foto: Andreas Pohlmann