Selbstmörder wider Willen. Erdmanns Politsatire

Selbstmörder wider Willen. Erdmanns Politsatire

von Isabella Kreim

Regisseurin Ulrike Arnold hat ihrer Inszenierung von Nikolaj Erdmanns Komödie „Der Selbstmörder“ einen Prolog vorangestellt. Auftritt Josef Stalin. Der sehr dafür war, dass dieses 1928 geschriebene Theaterstück der Zensur zum Opfer fällt und nie aufgeführt wird. Und tatsächlich war die erste Aufführung von „Der Selbstmörder“ in der SU erst 1982, nach Erdmanns Tod.

Nicolaj Erdmanns politische Satire auf die Sowjetdiktatur „Der Selbstmörder“ beginnt mit einem Ehestreit im Schlafzimmer. Semyon will nachts eine Leberwurst. Eine Extrawurst. Seine Frau, die den ganzen Tag schuftet, weil Semyon arbeitslos ist, ist sauer, ihn auch noch nachts bedienen zu müssen. Er spielt die beleidigte Leberwurst, fühlt sich gedemütigt. Frau und Schwiegermutter machen sich aber Sorgen, als Semyon weg ist. Er wird sich doch nichts antun?

Bald hat sich herumgesprochen: Ein gewisser Semyon Semjonowitsch Podsekalnikow will sich umbringen.
Und jetzt geht der Irrwitz von Erdmanns Politsatire erst richtig los.
Alle möglichen Interessengruppen wollen Erdmanns Selbstmord für ihr Anliegen reklamieren. Denn ein Selbstmörder kann alle Missstände äußern, der Staat kann ihn niicht  mehr umbringen lassen, nicht einmal in den Gulag verbannen. Und so soll Semyon einen Abschiedsbrief hinterlassen, der Auskunft gibt, wer an sienem Tod schuld ist. Die Regierung natürlich, die Kulturpolitik, das Finanzamt, die Wohnungsnot, die Fleischindustrie.

Ein Vertreter der Intelligenzija fordert Aufmerksamkeit für den schwindenden Einfluss der geistigen Elite, eine Tänzerin erhofft sich von einem romantischen Selbstmord aus unglücklicher Liebe neue Popularität. Die Kirche, die Wurstindustrie, ein erfolgloser Schriftsteller, sie alle wollen Semyon zum Märtyrer ihrer Sache machen.

In ihrer Textfassung und Inszenierung verzichtet Regisseurin Ulrike Arnold bis auf einige proijezierte Zitate von Putin, Erdogan oder Bolsonaro auf direkte Aktualisierungen. Parallelen zu aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeiten ergeben sich von selbst, sagt sie im Gespräch mit dem Kulturkanal. 

Foto: Ludwig OLah

 

Kulturkanal am 21.10.2022
    
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