Wer ist schuld am Selbstmord des Semjon K.?

Wer ist schuld am Selbstmord des Semjon K.?

von Isabella Kreim

Die Schauspielerin und Regisseurin Ulrike Arnold hat „Der Selbstmörder“ von Nicolaj Erdmann, eine Politsatire aus dem Jahr 1928, am Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt inszeniert. Über das, was die Mächtigen am meisten fürchten: Dass ihr Unterdrückungssystem mit den Mitteln der Komik ad absurdum geführt wird.

Und diese Inszenierung ist eine Umsetzung, die sich der grotesken Elemente bedient und die dennoch die Nöte des Einzelnen, die Frage nach dem Leben im Angesicht eines Selbstmords wider Willen ernst nimmt.
Es wird bei der Premiere nicht viel gelacht bei dieser Komödie. Überhaupt bleibt das Publikum eher verhalten.
Ist es diese Mischung aus existenziellen Nöten und grotesken Typen, oder die zeitliche Distanz von fast 100 Jahren zum stalinistischen Regime, die ein wenig zu befremden scheinen?
In dieser Inszenierung von Ulrike Arnold ist das Ausloten jeder Nuance zwischen Lächerlichkeit und bitterem Ernst wichtiger als die Rasanz einer Klipp-Klapp-Komödie. Der Abend nimmt tatsächlich nur allmählich Schwung auf, ist mit 2 Stunden Spieldauer auch nicht ganz kurz.
Aber ich mochte diese nicht auf schrille Effekte, sondern auf die Widersprüchlichkeit zwischen drastischer Gesellschaftssatire und individueller Tragödie setzende Herangehensweise, die auch ihre formale und ästhetische Inspiration aus dem zeitlichen Umfeld der Entstehung vom Stummfilm bis zur Musik nimmt.

An meinem Tod ist niemand schuld, schreibt der arbeitslose Semjon nach seinem Ehestreit auf die Wand, die aussieht wie der „Eiserne Vorhang“ - wie der im Theater natürlich, nicht wie die frühere Grenze zwischen West und Ost. Es finden sich Leute, die Semjons zu seinem Selbstmord beglückwünschen, ihn gnadenlos dazu drängen, um seinen Freitod als Opfer für ihre Interessen vereinnahmen zu können, Die Regierung ist schuld, die Wohnungsnot, das Finanzamt...

Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor, dass Menschen, die sich abgehängt und benachteiligt fühlen, nach Schuldigen suchen? Die Konstellation in Nicolaj Erdmanns bitterböser Politsatire „Der Selbstmörder“ ist natürlich viel krasser als heutige abstruse Schuldzuweisungen an „die da oben“. Denn in diesem Sowjetsystem unter Josef Stalin kann nur ein Selbstmörder alle Missstände öffentlich machen: Der Staat kann ihn nicht mehr umbringen lassen, nicht einmal mehr in den Gulag verbannen.

Foto: Ludwig Olah

Kulturkanal am 24.10.2022
    
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Dann unterstützen Sie doch
den Kulturkanal!

zurück | Startseite | Macher | Unterstützer | Links | RSS-Feed | Kontakt | Impressum | Datenschutzerklärung
Akzeptieren

Diese Website verwendet Cookies. Durch die Nutzung dieser Webseite erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.