Autorinnen zur "Frauenfrage" und Adania Shibli

von Heike Haberl

Sprach- und inhaltsstarke Schriftstellerinnen an den ersten beiden Abenden der Ingolstädter Literaturtage: Darüber berichten wir im heutigen Kulturkanal, zu dem sie ganz herzlich Heike Haberl begrüßt.

„Für mich ist es die Frauenfrage“: Mit einem Zitat von Marieluise Fleißer aus ihrem Drama „Pioniere in Ingolstadt“ eröffnete Lena Gorelik das Festival im Festival der 31. Ingolstädter Literaturtage. Dazu hatte die letztjährige Fleißer-Preisträgerin drei hochkarätige Autorinnen eingeladen, die ihre über diesen Satz eigens verfassten Texte vorstellten – die bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Dabei kam neben all dem, was Fleißers Schaffen in all seinen literarisch sehr unterschiedlichen Formen vermag, neben den äußerst genauen Figurenzeichnungen vor allem eines ans Licht: Wie erschreckend heutig ihre Texte noch immer sind. Die Themen und Situationen vor rund 100 Jahren, in denen sich die Konstellationen bewegen, sind im Grunde dieselben, in denen sich die jetzigen Geschichten abspielen. Frauen werden systematisch benachteiligt, in der Öffentlichkeit bloßgestellt, an den Pranger gestellt und in ihren Äußerungen oft nicht ernst genommen. Viele Frauen werden nach wie vor Opfer von physischer oder psychischer Gewalt. Insofern waren sich alle Schriftstellerinnen auf dem Podium im Alf-Lechner-Museum einig, dass die Frauenfrage im Grunde auch eine Männerfrage ist. Denn anstelle der Opferisierung, der Verantwortungsabschiebung sollte die Auseinandersetzung mit den Tätern treten und als transformatives Potenzial genutzt werden. Frauen sollten nicht länger in Frage gestellt werden und sich rechtfertigen müssen. Das wäre zu ihrer Zeit auch eine große Entlastung für Marieluise Fleißer gewesen – z.B. nach der übergriffigen Inszenierung ihrer “Pioniere in Ingolstadt” durch Bertolt Brecht, die Ende der 1920er Jahre einen regelrechten Theaterskandal auslöste, welcher ausschließlich der Autorin und nicht dem Regisseur angelastet wurde. Dieses Ereignis ist im aktuellen Text von Charlotte Gneuß erwähnt, der sich als äußerst gelungene literarische Mischung zwischen Rede, Essay und szenischer Erzählung entpuppt und ihre fiktive Ansprache an den Oberbürgermeister und die Bürgerinnen und Bürger von Ingolstadt vom Stil der Fleißer ins heute transportiert.

In Olivia Wenzels Erzählung geht es um die körperliche Verletzung, Versehrung einer Frau; dem nähert sich der Text zunächst an einem Gegenstand entlang an – einem Kleidungsstück nämlich, das für etwas sehr Weibliches steht: einem Kleid.

Auch Karen Köhler erzählt von Erfahrungen, die sich in den Körper und in die Person einschreiben; sie erzählt, wie der Körper sich merkt, was passiert ist, ausgehend von unterschiedlichen Stellen des Körpers; damit ineinandergreifend erzählt sie auch von einem Körper, der von Krankheit und Tod befallen ist; von einer Gewalt durch Männer, aber zugleich von einer unfassbar zärtlichen Beziehung zwischen Tochter und Vater.

Schon am darauffolgenden Abend war die israelisch-palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli zu Gast, um ihren Roman „Eine Nebensache“ vorzustellen – das erste ihrer Bücher, das in deutsche Sprache übersetzt wurde. Ein für sein Genre relativ kurzer Band mit schlanken 117 Seiten, der in all seiner Straffheit aber enorm viel ausdrückt. Dabei erzählt er mehr über die Welt, über die Vergangenheit und das Jetzt als so manche dicke wissenschaftliche Publikation. Und er ist sprachlich ein Geschenk, wie Moderatorin und Kuratorin Lena Gorelik bei ihrer Begrüßung feststellte. Die englische Übersetzung war für den National Book Award (2020) sowie den International Booker Prize (2021) nominiert. Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays. Zudem ist sie in der akademischen Forschung und Lehre tätig. Im letzten Jahr wurde sie mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Palästina und Deutschland. Das fundierte, substanzielle Gespräch zwischen beiden Autorinnen fand in englischer Sprache statt und wurde von Dolmetscherin Marlene Schwarzbauer sukzessive ins Deutsche übersetzt.

Adania Shiblis Roman „Eine Nebensache“ von 2017 besteht aus zwei Teilen, die auch jeder für sich funktionieren würden und in sich abgeschlossen sind. Die Handlung beginnt 1949 und erzählt einige Tage in der Wüste Negev, wo ein palästinensisches Beduinenmädchen von einem israelischen Soldaten missbraucht und ermordet wird. Jahrzehnte später versucht eine junge Frau aus Ramallah, mehr über diesen Vorfall herauszufinden. Sie ist fasziniert, ja besessen davon, vor allem, weil er sich auf den Tag genau 25 Jahre vor ihrer Geburt zugetragen hat. Ein Detail am Rande, das jedoch ihr eigenes Leben mit dem des Mädchens verknüpft. Die Geschichten beider Frauen verwebt Adania Shibli zu einer eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt, Macht und die Frage nach Gerechtigkeit, nach Aussöhnung im Erzählen und Erinnern.

Kulturkanal am 05.05.2024
    
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